BETTINA RÖHL

ERWACHSEN WERDEN - EINE MODERNE INITIATION

ERWACHSEN WERDEN - EINE MODERNE INITIATION
Bettina Röhl

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Autorin, entnommen aus: Männer Vogue

In einer Woche frei von Neurosen? Die Männer Vogue-Autorin begab sich in den von dem Amerikaner Robert Hoffman entwickelten Quadrinity-Prozess. Und sagt: Das Versprechen wird gehalten.

Wenn Sie einmal wirklich in Schwierigkeiten sind, wenn es Ihnen so schlecht geht, dass Sie nicht mehr weiterwissen und sich fragen, wozu Sie überhaupt noch auf dieser Welt sind, dann werfen Sie Ihre Verzweiflung nicht gleich wieder weg. Gehen Sie nicht – wie gewohnt – in die nächste Kneipe, um ein Bier nach dem anderen zu trinken und so zu tun, als sei sowieso alles egal. Nein, beschließen Sie, aus dieser Notlage zu lernen! Machen Sie den Hoffman-Quadrinity-Prozess. Es ist zumindest eine Möglichkeit, über die es sich nachzudenken lohnt.

Der Hoffman-Quadrinity-Prozess hält die Chance bereit, noch einmal hinabzusteigen zu den Wurzeln unserer Kindheit, um unsere Existenz radikal und gründlich von destruktiven Prägungen zu reinigen. So jedenfalls verspricht es der Prospekt. …

Hoffman bricht mit seinem Quadrinity-Prozess ein altes Muster, das sich selbst in Psychokreisen hartnäckig hält. Gesellschaftlicher Konsens ist: Man kann seine Probleme nur in jahrelanger Analyse beziehungsweise Therapie lösen und auch dann eigentlich nur ausagieren. Von einer wahren Heilung sprechen die wenigsten. Die Botschaft dagegen, die Hoffman verbreitet und mit seinem Prozess unter Beweis stellt, ist, dass es eine Möglichkeit gibt, seine Probleme loszuwerden. Schnell, gründlich und ein für allemal. Und das ist die Chance. Der Quadrinity Prozess erfordert eine Entscheidung. Die Entscheidung, für sich zu kämpfen und sich selber mit seinen Ängsten und Nöten ernstzunehmen.

Sich zu sagen, diese Verzweiflung und diese Wut sind berechtigt. Ich bin um sehr viel Glück in meinem Leben betrogen worden, ich habe etwas besseres verdient. Es ist die Entscheidung, sich ein großes Stück Leben, das man verloren hat oder noch nie hatte, zu erobern, und zwar ausschließlich deshalb, weil man als Mensch ein Recht darauf hat. Ich beschloss, den Prozess zu machen.

In den Vorbereitungsbögen, die ich sechs Wochen vor meinem Prozess bekomme, wird mir zuerst die Theorie erklärt, auf der der Prozess aufbaut: das negative Liebessyndrom. Die Grundlage dieser Theorie, die Robert Hoffman in seinem Buch “No One Is to Blame” ausführlich beschreibt und die wir jetzt in Auszügen zu lesen bekommen, ist, dass wir nicht lieben können, weil wir als Kinder nicht gelernt haben, wie man liebt. Unsere Eltern konnten es uns nicht beibringen, weil sie es ihrerseits in ihrer Kindheit nicht gelernt haben. Gemessen an den tatsächlichen Möglichkeiten des voll entfalteten Menschen gehen wir alle neurotisch und unmenschlich miteinander um. “Statt Liebe zu lernen”, so Hoffman, “haben wir als Kinder zugeschaut, wie unsere Eltern sich mit Ersatzbefriedigungen betrogen haben. Statt Zeugen wahrer Liebe zu werden, haben wir eine Lüge erlebt und sie unseren Eltern abgekauft. Das negative Liebessyndrom entsteht da, wo wir als Kinder die negativen (und positiven) Verhaltensweisen unserer Eltern kopieren. Und wer genau in sich hineinhorcht, merkt, dass sich unser Innenleben oft anhört wie eine sehr sehr schlechte Ehe (oft hat es verdammte Ähnlichkeit mit der Ehe unserer Eltern). … Eine der Hauptursachen für alle Probleme, die wir haben, ist darin begründet, dass das “emotionale Kind” und der “lntellekt” fast ständig miteinander im Streit liegen. Während das emotionale Kind auf dem Stand eines Babys, eines Dreijährigen oder eines Siebenjährigen stehengeblieben ist, ist unser Intellekt in der Regel in der Laune eines zornigen alten Herrn, der vergessen hat, was Lebensfreude ist.

Der Leidtragende dieses täglichen Gemetzels zwischen Emotion und Intellekt ist unser Körper. Die verbotenen emotionalen Sehnsüchte nach Liebe drücken sich in körperlichen Verspannungen, Müdigkeit oder Krankheit aus oder peinigen uns mit übertriebenen sexuellen Wünschen. Das “emotionale Kind” und der “Intellekt” beherrschen unser Leben mit ihrem Kampf so, dass wir fast völlig von unserem spirituellem Selbst, dem vierten Aspekt der Quadrinität, abgeschnitten sind. Dies endlich ist nicht mit negativen Mustern besetzt, sondern stellt unser eigentliches Wesen voller Liebe dar. Doch wir können es erst dann wieder richtig spüren, wenn wir Emotionen und Intellekt von ihren negativen Programmen befreit haben.

Das spirituelle Selbst hat die ganze Selbstliebe für das emotionale Kind, die wir immer im Außen gesucht und nicht bekommen haben, und es besitzt auch die wahre Vernunft, an der unser Intellekt leider oft so wenig teilhat. Ziel des Prozesses ist es daher, die negativen Muster abzulegen und Emotion und Intellekt zu versöhnen. Sind diese erst versöhnt, wird auch der Körper von seinen Verspannungen befreit, und das spirituelle Selbst wird als das eigentliche, wahre Ich erfahren. Aber bis dahin erscheint uns, den gerade erst Angekommenen, der Weg noch weit. Zunächst sitzen wir gefangen in unseren ängstlichen Gefühlen – wie in der Schule im Halbkreis vor unseren neuen Lehrern und einer Tafel, an der uns das Modell aufgezeichnet wird. … Es ist faszinierend. Im Laufe des Tages rutschen wir tiefer und tiefer in unsere kindlichen Gefühle hinein. Wir zieren und weigern uns, schmollen und verteidigen trotzig unsere alten Verhaltensweisen, während die Lehrer mit scharfen Blicken und Worten unsere Muster enttarnen.

…und überhaupt, denke ich verstummend weiter, ich habe schon soviel geschafft, und was wissen die denn von meinem Leben… Aber ich merke schon, darum geht es nicht. Es geht ärgerlicherweise nicht darum, was ich alles schon in meinem Leben erlebt, gelitten und versucht habe… manno, denke ich trotzig. Erst durchlebt man eine schwere Kindheit, und dann wird man für die Schäden, die man davonträgt, auch noch verantwortlich gemacht… Aber die Lehrer sind unerbittlich. “Willst du das Problem noch haben?” ist die einzige Frage, die sie zu interessieren scheint. . . . “Natürlich will ich das Problem nicht mehr haben”, murmele ich widerstrebend. Da fällt schon wieder eine unerbittliche Antwort auf mich herab: “Na, dann gib es doch endlich ab…”

Und auch wenn ich innerlich rebelliere – so nach dem Motto: Wenn das so einfach wäre! -, fange ich an, es zu tun. Wir alle tun es, wir alle geben uns kleine und große Rucke, geraten in Gefühlsstaus und Bredouillen, aber wir alle fangen an zu arbeiten. Wir erkennen, dass die Kapitulation, die Überwindung des alten Musters, das uns eigentlich unglücklich macht, der einzige Weg zum Glück ist. Und um so größer die Diskrepanz zwischen der dargestellten Identität und der darunterliegenden sensiblen Wirklichkeit ist, desto schwieriger wird es, ein Muster zu erkennen, desto heftiger wehren wir uns gegen die Entlarvung, und desto tiefer fallen wir.

Nachdem wir so unsere Muster erkannt haben, gehen wir über zum zweiten Schritt des Hoffmanschen Prozesses. In einer einmaligen Anklage an unsere Eltern geben wir ihnen die Muster, die uns am meisten gequält haben, zurück. Jetzt dürfen wir für uns kämpfen und unser Leid laut herauslassen. Jetzt dürfen wir endlich mal hassen, wie wir noch nie hassen durften. Und das tut weh. Wir brauchen all unseren Mut, um durch diesen Schmerz hindurchzugehen. Jedoch ist eine der wichtigsten Verfahrensweisen des Prozesses die, dass die Aggressionen, die Wut, die Verzweiflung und die Traurigkeit sich nicht blind auf die Eltern entladen, sondern mit offenen Augen und klarem Bewusstsein an sie gerichtet werden. Wir schleudern unseren Eltern nicht irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf, sondern erinnern uns an konkrete Eigenschaften und Situationen, die uns belastet haben. Wir geben unserem Vater seine Gefühlskälte zurück, die uns selber lieblos und gehemmt gemacht hat, wir sagen unserer Mutter, dass wir ihr Selbstmitleid nicht mehr haben wollen, mit dem sie uns – immer wenn wir glücklich sein wollten – ein schlechtes Gewissen machte, wir geben unseren Eltern die Selbstzweifel, den Leistungsdruck und die Versagensangst zurück, die uns daran gehindert haben, erfolgreich zu arbeiten. Die Tage des Anklagens sind die Hölle und der Himmel zugleich. Nach der Wut, dem Schmerz und der konzentrierten Arbeit, die wir geleistet haben, kommt endlich das Gefühl der Erleichterung. Es hat die Wirkung einer inneren Reinigung und fühlt sich wunderbar an. Es ist wie eine Häutung. Als Müll liegt unsere negative Identität jetzt zu unseren Füßen. Das Umschalten ist bei allen zu spüren, die plötzlich dynamisch und mit lauten, fröhlichen Stimmen durch die Räume gehen.

Doch auch der dritte Teil des Prozesses, die Verteidigung, erfordert Konzentration, neue Tränen und neues Leiden. Die Lehrer fordern uns auf, mit unseren Eltern in einen schriftlichen Dialog zu treten. Schon haben wir alle das Gefühl, seit Wochen zusammenzusitzen und zu schreiben. Jeden Morgen stehen wir gemeinsam auf, essen und beginnen mit unserer Arbeit, dann wieder essen und wieder Arbeit. Stundenlang sitzen wir einer neben dem anderen, schreiben und hören nur das Kritzeln auf dem Papier. Jeder befindet sich in der Kindheit seiner Eltern, und wir fühlen zum ersten Mal in unserem Leben, wie es ihnen damals ergangen ist. Mein Arm wird lahm und lahmer, und ich kann nicht mehr schreiben. So gedrückt, so niedergeschlagen habe ich mich selten gefühlt wie in diesen Stunden, in denen ich versuche, mich in die Kindheit meiner Mutter zu versetzen. Ich fühle eine solche Schwere und Bedrückung in diesem Kinderleben, in dem Lebensfreude verboten war, dass meine Hand kaum noch weiterzuschreiben vermag. Verzweifelt sage ich meiner Therapeutin, dass ich das nicht verstehe, ich habe doch sonst keine Probleme mit dem Schreiben. Aber sie weist mich nur verständnisvoll darauf hin, dass ich mir jetzt vorstellen könne, wie schwer es meine Mutter in ihrer Kindheit gehabt habe. Tiefes Mitgefühl ergreift mich für dieses kleine, ernste Mädchen, das meine Mutter war. Ich spüre: Wenn sie jemals hart und kalt zu mir war – sie wusste es nicht besser.

Alle schweigen: So ergreifend empfinden wir die Schicksale unserer Eltern, die in Kriegsnöten, Nazi-Zeit und autoritärer Kleinbürgerenge aufgewachsen sind. Als ich mich in meinen Vater einfühle, ergreift mich Unruhe und Panik. Ich halte es kaum noch auf meinem Stuhl aus. Ich spüre Todesangst und begreife: Todesangst muss mein Vater vor seinem Vater gehabt haben. Ein Vater, der ihn prügelte, stichelte und quälte, indem er ihn niemals anerkannte. Ich muss weinen. Mein Vater. Eben noch wollte ich ihn vor Wut erschlagen. Jetzt möchte ich ihn umarmen, küssen und ihm sagen, dass alles gut ist. Auch in diesem schwierigen Teil des Prozesses geben uns die Lehrer Anleitung und Hilfe. Aber die meisten Dinge, die wir noch nie gekonnt haben, oder von denen wir nicht mal gewusst haben, dass man sie können kann, lernen wir wie von selbst.

Fließend ist der Übergang von der Verteidigung zum vierten Teil des Prozesses: dem Verzeihen. Jetzt, wo wir gefühlt haben, wie es in unseren Eltern aussah, können wir ihnen verzeihen. Jetzt können wir uns wirklich von ihnen lösen. Erst jetzt öffnen sich unsere Herzen. Mit dem Ausbrechen des Mitgefühls werden wir weich. Dass Mitgefühl lässt unsere Toleranz steigen. Es ist, als habe bis dahin jeder nur seinen eigenen Prozess gemacht.

Erst jetzt begegnen wir uns. Wir fangen an zu reden, zu lachen und uns zu umarmen. Wir beglückwünschen uns, dass wir es geschafft haben. Es ist, als seien wir alle in diesen Tagen gewachsen. Die Umarmung von der Rothaarigen, die ich für rauh und burschikos gehalten habe, erfahre ich jetzt als die sanfteste und zarteste von allen. Die Politikerin, die in meinem Beisein durch mehrere Höllen gegangen ist, hat jetzt das Strahlen eines Kindes, bei dem Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag fallen. Und meine schwäbische Zimmernachbarin hat eine völlig andere Ausstrahlung bekommen. Als wir uns zum Abschied in die Augen sehen, fühle ich, dass ich sie vermissen werde.

Die letzten Tage sind der gemeinsamen Bemühung gewidmet, uns wieder – diesmal richtig – zu Erwachsenen zu machen und uns auf das Leben nach dem Prozess vorzubereiten. Das ausgetobte emotionale Kind und der geläuterte Intellekt finden wieder zueinander. Erst jetzt sind die Voraussetzungen gegeben, sie in einer langen Schluss-Sitzung, der Closure, mit dem Körper und dem spirituellen Selbst zu einer Quadrinität zusammenzufügen. Nun, da wir wieder erwachsen geworden sind, bringen uns die Lehrer Methoden bei, wie wir die Erfolge des Prozesses beibehalten und erweitern können.

Als ich das Justizgebäude, das ich vor einer Woche betreten habe, wieder verlasse, bin ich ein anderer Mensch. Sieben Tage Arbeit, von morgens acht Uhr bis oft zwei Uhr nachts, liegen hinter mir. Ich taumele ins Freie. Die Ablösung von meinem Prozess dauert noch eine Woche. Dann erst habe ich mich von den Anstrengungen erholt. Und jetzt bricht die Freude wirklich aus. Es ist ein Gefühl wie nach einem sehr schwierigen, aber erfolgreich abgeschlossenen Examen. Um es richtig zu sagen: Der Quadrinity-Prozess befreit einen nicht in einer Woche für immer von allen Problemen. Wie heißt es so schön in dem Prospekt: Keiner kann und will mit dem Zauberstab über deinem Kopf fuchteln, so dass alle Probleme von Dir abfallen… Und doch ist es mehr – viel mehr – als einfach eine intensive Therapiewoche. Die Kraft des Prozesses liegt darin, dass er die modernsten Therapieformen wie Gestalt-, Gesprächs- oder Körpertherapie, Bioenergetik, Imaginationen und Trancetechniken mit einem Ritual verbindet. Das Besondere des Prozesses liegt darin, dass er initiiert. In der Tradition uralter Initiationsriten wird hier noch einmal die Pubertät, nämlich die Ablösung von den Eltern, durchlebt und eine Initiation zum Erwachsenwerden durchgeführt.

Die Nachwehen meines Prozesses dauern an. Jetzt, nach vier Monaten, weiß ich, dass ich bestimmte Muster weggegeben habe und andere sich hartnäckig halten. Doch die Grundeinstellung – auf die kommt es an – hat sich geändert.

Und immer, wenn ich wieder mal kleinlaut oder verzagt bin, denke ich an diesen Satz, den ich während des Prozesses so oft gehört habe: “Wenn du deine Probleme nicht mehr haben willst, denk daran, es ist deine Entscheidung.”

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